Schweifen

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Sie ließ den Blick schweifen. Das Tal lag vor ihren Füßen, breitete sich aus wie ein duftender wertvoller schwerer Teppich. Sie tat einen Schritt nach dem anderen, ging den Weinberg hoch. Auf dem Weinberg. Setzte sie sich in den Schatten einer Rebe und blickte hinab. Es tat gut, oben zu sein, einen Überblick zu haben. Den Wind in den Haaren zu spüren, die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Kleine Schweißtropfen perlten ihre Wirbelsäule hinab. Der Atem trug sie, hielt sie aufrecht, sie und ihre Wirbelsäule. Ihren ganzen Leib, die Knochen, Sehnen, Knorpel, Bänder, Muskeln, die Adern, in denen das Blut pochte, angetrieben von diesem magischen Organ, dem Herzen. Die Trommel, die von Geburt an den Takt gab und gibt, nach dem sie tanzte wohl schon vor Anbeginn der Zeit. Ihr Herz, wo kam es nur her? Wenn es nicht schon immer gewesen wäre, wie hätte es plötzlich, unvermittelt erscheinen können?

Nein, es musste immer schon gewesen sein. Im Einklang schlagend mit den Herzen aller, die das All letztlich bildeten. Von Universum zu Universum sich erstreckend.

Warum sich klammern an irgendwas, an irgendjemanden? Fragte sie sich. Ernsthaft. Und spürte, wie der blutende Muskel sich zusammenzog in Traurigkeit. Es hatte eine Illusion durchschaut, scharfsinnig wie es war, hatte es von Anfang an gewusst …

Unsinn! Dachte sie. Was für ein völliger Blödsinn. Gar nichts hat es gewusst, und auch jetzt wusste es rein gar nichts, es schlug einfach nur. Und spürte, wo es einen Mangel gab. Oh, da war es wirklich unschlagbar. Im Erkennen des Mangels, wo es nur Fülle geben sollte. Da zog es sich zusammen. Weil es Hunger hatte, wie ein Säugling abhängig zu sein schien. Weil es nach Nahrung suchte, wo es keine geben konnte.

Sei’s drum, überlegte sie, kramte in ihrem Rucksack nach der Wasserflasche, setzte diese an die Lippen und trank. Ich bin nicht ausgeliefert, nicht mehr. Ich erwarte nichts von anderen. Aber weißt du was? fragte sie sich selbst, in plötzlicher Erkenntnis. Ich sollte es! Denn! Ich verdiene die Erfüllung meiner Wünsche, und wie sollte das jemals geschehen, wenn ich nichts erwarte? Wünscht man, erwartet man. Und das mit der Anhaftung und der Gier, ja, da gab es schon das eine oder andere Körnchen Wahrheit, zuviel Erwartung wäre wohl wirklich nicht gut und wohl Gier, aber gar keine Erwartungen zu entwickeln wäre unmenschlich und schlicht und ergreifend dumm. Ich erwarte ja schließlich auch, dass mein Atem mich weiter trägt, bis ich tot bin. Sollte ich auch damit aufhören? Einfach „sein“ und damit den Atem Lügen strafen?

Sie schraubte den Verschluss der Flasche wieder zu. Verstaute sie im Rucksack. Runzelte die Stirn in ernsthafter Überlegung. Und atmete. Sie dachte ohne zu denken. Die Gedanken jagten in ihrer Kopfschale dahin wie die Wolken am Horizont. Es war nicht wichtig und dennoch: ihr Leben. Sie dachte. Also war sie?

Das und noch viel mehr. Sie erhob sich und verließ den kühlenden Schatten der Weinrebe. Sie schritt voran. Gelangte auf die Straße. Folgte dieser. Hielt Ausschau nach dem nächsten Waldweg, der da auch nicht unweit sich ins Dickicht bahnte. Sie verließ den Asphalt, der in der Hitze flimmerte. Tauchte ein ins kühle All des Waldes, mit all dem Lebendigen, das er enthält. Sie war nicht nur am Leben. Sie war lebendig, wie der Wald.

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. teggytiggs sagt:

    …gefällt mir sehr gut, das Gehen in den Wald zurück zur ursprünglichen Kraft und Freiheit…

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