Kampflos / No Battle

(English version below)

„In euch tobt ein Kampf“, sagte er. „Ihr glaubt, euch entscheiden zu müssen zwischen Licht und Dunkel. Dabei überseht ihr, dass ihr die Grenze seid zwischen Tag und Nacht, dem Leben und dem Tod.“

Er hielt für einen Augenblick inne. Blickte in die Runde. Ließ die Worte sickern.

„Fühlt ihr euch traurig, seid es. Fühlt ihr euch fröhlich, seid auch dies. Ganz. Haltet das Nichts zwischen Traurigkeit und Fröhlichkeit aus: die Gleichgültigkeit, die Bedeutungslosigkeit. In der ständigen Suche nach Stimulation, um euch lebendig zu fühlen, vergesst ihr zu sein. Hier, im Jetzt.“

Wieder schwieg er. Schaute wieder in die Runde. Sah uns an, wie wir da saßen und lauschten. Kicherte ein wenig. Nein, er lachte uns nicht aus. Er sah nur, wie wir dasaßen und lauschten, als überreichte er uns mit seinen Worten den Schlüssel zum Geheimnis, das er nun mit uns teilte.

„Egal, wo ihr euch gerade befindet, ob ihr Könige seid oder Bettlerinnen, euch beglückt und begnadet findet oder von allen guten Geistern verlassen: so lange euer Herz schlägt, nämlich aus eigenen Stücken, so lange ihr atmet, auch dies freiwillig und ohne technische Hilfe – seid ihr genau das, was ihr in eurem manchmal ziemlich irrwitzigem Streben nach Glück anstrebt: lebendig. Ihr könnt euch nur scheinbar vor eurer Aufgabe drücken, indem ihr gewisse Dinge verweigert oder andere herbeizwingt.“

Er schwieg. Kicherte nicht mehr. Blickte ernst in die Runde, traf jeden Blick einzeln. Hielt jedem Blick stand. Erkannte jeden einzelnen von uns. Ließ uns ein, für den Bruchteil einer Sekunde: da war Nichts, einfach nur ruhiges, klares Nichts.

Es verstrich eine Weile. Irgendwann scharrte jemand mit den Füßen. Unruhe kehrte ein, die Neugierde wuchs, wurde körperlich für alle spürbar. Schließlich hielt es einer nicht mehr aus, fragte: „Welche Aufgabe wäre das?“

Er suchte den Blick des Fragestellers. Mit einem unendlich … hm, ja, gütigem, egal wie blöde das nun klingen mag, Lächeln auf dem ganzen Gesicht, nein, mit seinem ganzen Körper lächelte er, antwortete er: „Zu sein. Einfach zu sein.“

Er schmunzelte. Fuhr sich über seinen Bart.

„Übt es. Täglich.“

Damit entließ er uns. Ich übe. Täglich. (Seit Jahrzehnten bin ich eine Übende.)
Manchmal versage ich kläglich. Dann wieder strahle ich und weiß: ich bin. Einfach. Nur.

***

„There is a battle in you,“ he said. „You think you have to decide between light and dark. In doing so, you omit that you are the border between day and night, life and death.“

He paused for a moment. Looked into the round. Let the words ooze.

“If you feel sad, be it. If you feel happy, be this. Bear the nothingness between sadness and happiness: the indifference, the insignificance. In the constant search for stimulation to make you feel alive, you forget to be. Here, in the now.“

Again he was silent. Looked back into the round, at us as we sat and listened. Giggled a little. No, he did not laugh at us. He only saw us sitting and listing, as if he were giving us the key to the secret that he shared with us.

„No matter where you are, whether you are kings or beggars, feeling happy and blessed or abandoned by all good spirits: as long as your heart beats, as long as you breathe, both voluntarily and without technical help – you are exactly what you are striving for in your sometimes quite irrational pursuit of happiness: alive. You cannot run away before your task, by denying certain things or by enforcing others.“

He was silent. No more giggles. Looked seriously into the round, met each look individually. Kept everyone’s gaze. Recognized each one of us. Let us in, for a fraction of a second: there was nothing, just calm, clear nothing.

It elapsed a while. Someone screeched with his feet. Restlessness returned, the curiosity grew, became physically felt for all. Someone asked eventually: „What would be the task?“

He looked for the questioner’s eye. With an infinite … hm, yes, kind, no matter how stupid this may sound, smile all over his face, no, he smiled with all his body, he said, „To be. Simply to be.”

He smirked. Drifted over his beard.

„Practice it. Every day.“

With this he dismissed us. I am practicing. Every day. (For decades, I’ve been practicing.)
Sometimes I fail miserably. Sometimes I radiate and know: I am. Nothing. More.

Spitzwegerich

 

 

9 Kommentare Gib deinen ab

  1. Einfach sein ist schon gut. Aber das wirkliche Sein kommt oft erst durch den Blick eines Du, das mir sagt: „Du bist. Und es ist schön, dass Du bist“

    1. Das ist richtig. Sein bedeutet auch das. :o)

  2. »Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, die begriffen, aber sich nicht vergegenwärtigen konnten, voller Information, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, nicht aufgehalten von uns selbst.«
    – Roger Willemsen, Wer wir waren: Zukunftsrede (S. Fischer Verlag, 24.11.2016 – 64 Seiten)

    1. Man kann nicht wirklich glauben, dass Wissen uns vor den Unbillen des Lebens schützt. Oder dass irgendwer es wirklich besser weiß als jemand anderer … aber ich fürchte, genau das passiert … was werden wir wohl später mit unserem „ewigen Leben“ anfangen, werden wir nicht doch wieder vor lauter Langeweile sterben????

      1. „Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden. …“
        Langeweile. Heute dachte ich darüber nach, dass so viele Menschen nichts mit sich selbst – außerhalb ihrer Verpflichtungen – anfangen können. Ja, an Langeweile sterben sie.

      2. Schrecklich, nicht wahr? Wenn das so ist, sind sie nie mit der Quelle ihres inneren Reichtums verbunden gewesen, wissen nicht einmal davon … Hauptsache, sie werden mit News aus der ganzen Welt zugeschüttet, egal wie sinnlos diese auch sein mögen und wie verzerrt …

      3. Ja, zutiefst erschreckend.

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