Die Gedanken fahren über Land. Es dämmert – der Morgen oder der Abend? Wenn der Himmel so bleiern ist wie dieser Tage ist nicht einmal auf den Stand der Sonne Verlass. Der Wind bläst eisig, der Schnee unter meinen Sohlen knirscht. Mein Atem hüllt meine Wangen in warmen Dunst ein, beschlägt meine Brillen.
Ich gehe und gerate in einen meditativen Zustand. Ich höre auf zu denken, ich bin einfach ein Ding, das auf verschneiten Wegen und Feldern dahin schreitet, das aufhört, ein Ich zu sein, zumindest für einige Zeit, da es sich eins fühlt mit dem Körper, der sich bewegt und dem Raum, der diesen Körper umgibt. Es hört die äußeren Geräusche und riecht und schmeckt und fühlt sein Herz schlagen, wie dieses das warme Blut durch die Adern pumpt, wie sich die kalte Luft an die Wangen schmiegt. Aber es hat keinen Namen mehr, es könnte ebenso gut die Kamera sein, die von ihm bedient wird, oder der Mantel, den es trägt oder der Boden unter seinen Stiefeln. Was sind Stiefel?
Das Reh, das aus dem Gehölz hüpft, um auf die andere Seite des Weges zu gelangen, hält inne, schwer zu sagen, wer oder was verblüffter ist, das Reh oder die Wanderin, wer just in diesem Moment ich-loser ist.
Das sind Sekunden. Mehr nicht. Aber ich habe mir sagen lassen, das ist schon was.
Natürlich. Ist es etwas.
In den letzten Wochen lebte ich tatsächlich “zwischen den Zeiten”, geradezu abgeschieden in einem turmähnlichen, sehr baufälligen Gebäude in einem der größeren Bezirke der Stadt. Die vergangenen Jahre waren von Betriebsamkeit, Pflichten, ja “Stress” geprägt, nun habe ich mich bewusst zurückgezogen, vielmehr zwangen mich mein Gesundheitszustand, meine Seele zum Rückzug. Ich traf kaum Menschen und auch mein Liebster ist zur Zeit weit, weit weg. Ich lebte wie in einen Kokon eingesponnen, schlief und träumte, lebte von dem, was ich einmal die Woche einkaufte und da ich keine Lust hatte, zu konsumieren, was ich eigentlich gar nicht wollte, sparte ich sogar eine Menge Geld. Nicht, dass ich sonst auf allzu großem Fuß leben würde. Und ich verweigere mich auch nicht aus irgendeiner Moral heraus, sondern horche nur intensiv in mich hinein. Im Moment brauche ich nicht viel, was nicht heißt, dass dies so bleibt. Womöglich lebe ich bereits in der nächsten Woche ein ausgesprochen mondänes, aufwändiges Leben und tanze auf vielen Festen.
In Krisenzeiten lernst du dich selbst und andere kennen. Du weißt, wer deine Freunde sind. Alles andere fällt von dir ab, sofern du es loslässt. Oh, und ich lasse los, eins nach dem anderen. Ich habe einen Punkt in meinem Leben erreicht, an dem dies etwas leichter fällt. Vieles habe ich tatsächlich vergessen. Krame ich in alten Dingen, fällt mir ein Foto in die Hände und damit eine Erinnerung an etwaige schöne Zeiten mit anschließender Verletzung ein, bin ich sogar erstaunt darüber, was mich früher kränken konnte und heute nun wirklich keine Bedeutung mehr hat.
Nein, alt bin ich nicht, aber auch nicht mehr jung. Wobei ich natürlich für immer jung sein werde. Mein Körper mag altern, aber er wurde mir geschenkt, und ja, ich liebe ihn. Dieser mein Körper ist das wunderbare Geschenk des Universums an die Person, die ich bin. Es gibt Menschen die sagen, ich sei ein Geschenk des Universums an die Welt. Natürlich. (Wieso fällt einem selbst schwer, das zu glauben?) Ich und alle anderen Bewohner dieser Erde. Es gibt keine Schneeflocke, die einer anderen völlig gleicht. Jedes Blatt eines Baumes ist einzigartig. Kein Fingerabdruck eines Menschen ist wie der eines anderen. Jedes Ohr hat eine besondere Form.
Weshalb also konkurrieren wir, wo wir doch so einzigartig sind und Vergleiche nicht nur hinken, sondern verletzen? Ähnlichkeit verleitet zu Urteilen über die Güte und den Wert eines Dings, einer Sache, eines Lebewesens. Gedanken verführen dazu, zu glauben, dass man etwas weiß. Aber sie sind wie die Wolken, die im Sturm am Himmel vorüberjagen. Sie kommen und gehen, unstete Dinger, Gäste, Reisende, die man nicht aufhalten soll.
Worte aneinander gereiht wie Perlen auf einer Schnur. Bilden Sätze, können zu Gedichten formiert werden oder Geschichten, Beschreibungen, Anleitungen. So flüchtig sie sind, finden wir doch Wege, sie festzuhalten, Worte, die Gedanken und Gefühle ausdrücken. Einige Dichterworte scheinen für die Ewigkeit geschrieben worden zu sein und Gültigkeit zu bewahren. Ist es nicht atemberaubend, Werke zu lesen, die ein Mensch vor Hunderten von Jahren verfasst hat, von dessen Geist nach wie vor erfasst zu werden, als säße der Autor unmittelbar vor dir oder die beschriebene Szene spiele sich vor dir ab wie auf einer Bühne? Von bestimmten Wendungen ergriffen zu werden, als handelte es sich um eine moderne Erzählung, als sei alles heute noch ebenso gültig wie vor tausendfünfhundert Jahren?
Was verleiht manchen Worten ihre Unsterblichkeit? Ist es die menschliche Passion, die sie entstehen ließ, der Drang der dichterischen Seele nach Ausdruck dessen, was sie menschlich, fühlend, leidend, glücklich machte?
Egal. Sie sind ebenso flüchtig wie die Gedanken des Milchmädchens, das es heute auch nicht mehr gibt. Ebenso flüchtig wie das Internet, das Informationsflüsse ermöglicht, die noch vor einigen Jahrzehnten undenkbar waren. Wenn die Sonne in Millionen von Jahren explodiert und dieses Universum in Staub zurückverwandelt oder was auch immer daraus entstehen mag, wird es vielleicht andere Räume im Raum geben, in denen noch immer Goethe gelesen und bewundert wird, aber irgendwann, irgendwann wird auch dieser Raum verschwinden und mit jedem Raum, der verschwindet, verschwindet altes Wissen, einiges wird vielleicht gerettet, aber irgendwann wird wohl kein Raum mehr bleiben oder etwas ganz Neues wird sich auftun.
Oder auch nicht. Manches Dichterwort wird vielleicht tatsächlich ewig leben. Und sei es auch nur eines, wird in diesen unsterblichen Buchstaben das Erbe der gesamten Menschheit aller Zeiten enthalten sein und das, was uns eben zum Menschen macht.
Deshalb, so flüchtig Gedanken, Worte, Sätze, Gedichte und Geschichten auch sein mögen … sind sie wertvoll, jedes einzelne, wie die Schneeflocken oder die Blätter der Bäume, die Blätter aller Bäume, derer die waren, die sind und sein werden.
Deshalb brauchen wir sie, die Dichter, weil sie Zeugnis geben von allen Seelen, die jemals waren, sind und sein werden.