Die Geschichte des Lebens.

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Das Kreischen der Möwen wurde übertönt vom Rauschen des Windes. Es war heute besonders kalt, der eisige Hauch peitschte ihre Wangen und trieb ihr Tränen in die Augen. Die Luft, die sie einatmete, prickelte in den Lungen. Sie sah verschwommen, wie die weißen Vögel durch die Luft taumelten, getragen vom Sturm sich nicht wehrten, sondern von Luftböe zu Luftböe sich fallen ließen und schwebend mit weit ausgebreiteten Flügeln auf der Eisfläche landeten, begleitet von ihrem eigenen Schatten, so treu. Am Ufer des Teichs stand eine alte Frau, gebeugt von ihrer Erinnerung, versunken – glückselig? Voller Bedauern?

Alles nur Interpretation, kam sie zum Schluss, in welche Richtung auch immer. Wollte sie wissen, was und wie diese Greisin wirklich fühlte und dachte müsste sie hingehen und fragen. Wer weiß, ob selbst dann die Antwort der Wahrheit entspräche. Menschen dieser Generation waren auf Haltung bedacht. Das Leben ist etwas, das ausgehalten werden muss.

Sie seufzte. Drückte den Auslöser. Sie hatte wieder einmal eine Geschichte eingefangen. Nein, nicht eine. So viele Geschichten, wie es Betrachter dieses Bildes geben würde. Es wäre interessant (und auch wieder nicht), wie viele der sonntäglichen Spaziergänger diese Frau am Ufer wahrgenommen und sich IRGENDETWAS zur Szene gedacht hätten. Und wie viele dieser Wahrnehmungen vermutlich treffender gewesen wären als ihre.

Sie hatte etwas ganz anderes im Blick gehabt, ursprünglich. Ließ ihn allerdings schweifen, ihren Blick, weil sie wusste, er würde woanders hängen bleiben, an etwas, das womöglich völlig unbeachtet geblieben wäre (tatsächlich?). Es waren der Winkel, der Kiesweg, die Metallkette der Zaunes, die im Wind hin und her schaukelte. Die gierigen und flatternden Möwen.

Ja, und die Haltung der Frau. Die sie sah.

An wen oder woran wurde sie erinnert? An eine Zukunft, die so fern nicht mehr vor ihr lag? Oder etwa doch an eine Vergangenheit, eine Person, die sie einstmals kannte?

War das alles wichtig?

Sie hatte das Bild. Oder das Bild sie. Nein. Sie ließ es los, indem sie es zum Leuchten brachte und hinaus sandte in die Welt.

Sollten andere ihre eigene Geschichte hineininterpretieren. Eine wäre so gut, wirklich so gut wie die andere, denn auch wenn sie alle miteinander erfunden wären, hätte jeweils das Leben dessen, der sie erfand, sie geschrieben. Und wer konnte, durfte da sagen, welche besser oder schlechter wäre?

Die Realität … und wer könnte beweisen, welche Realität die wirklichere wäre?

Der, der am meisten geliebt hätte.

Beschloss sie zu glauben. Und liebte weiter, gegen jede Vernunft, nur ihrem Herzen entlang. Alles andere, fand sie, war es irgendwie nicht wert. Ihre Seele dafür aufzugeben, oder die eines anderen. Und befände sie sich auf dem Holzweg, würde sie es erfahren. Das Leben, nämlich ihr eigenes, war ihr bester, strengster aber auch liebevollster Lehrmeister. 

6 Kommentare Gib deinen ab

  1. Lyrische Prosa – ganz nach meinem Geschmack! Viele herzliche Grüße, Sylvia

    1. :o) Herzlichen Dank und auch liebe Grüße!

  2. Die Realität hinter dem Schein: Eine Frage, eine Quelle der Inspiration, ein Raum der Liebe und der Hoffnung, aber manchmal eben auch eine Welt, von der man lieber nichts wissen möchte.
    Ein schöner, poetischer Text!

  3. Tiefsinnig und berührend geschrieben. Solche Gedanken gehen mir auch manchmal durch den Kopf.

    1. :o) …. Herzlichen Dank!

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